Aufnahme in die Elite
Um an neues Personal für den No. 3 Troop zu kommen, erging an die Offiziere in den Ausländerkompanien des Pioneer Corps die Weisung, nach brauchbaren Rekruten für eine Kommandoausbildung Ausschau zu halten. Zudem wurde verlautbart, dass sich Männer mit fließenden Deutschkenntnissen freiwillig für eine Spezialeinheit melden konnten. In weiterer Folge mischten sich als einfache Soldaten getarnte Angehörige des Intelligence Corps unter die in Frage kommenden Kandidaten und fühlten ihnen vorsichtig auf den Zahn. Insgesamt 142 Männer fanden sich schließlich im Hotel Grand Central im Londoner Stadtteil Marylebone ein, wo Hilton-Jones nach einem finalen Interview an zwei Terminen am 20. August sowie am 7. September 1942 60 Soldaten für seine Einheit auswählte. Ihre endgültige Aufnahme in den No. 3 Troop, von dem die Commandos in spe erst jetzt erfuhren, hing jedoch noch von einer positiven Sicherheitsüberprüfung durch den als MI5 bekannten britischen Inlandsnachrichtendienst Security Service ab, mit der eine Infiltration durch deutsche Spione verhindert werden sollte und die mehrere Wochen in Anspruch nahm. Die ausgewählten Kandidaten wurden daher in einem Trainingscamp des Pioneer Corps in Bradford zwischengeparkt, auch weil es überhaupt noch keine Garnison für den Trupp gab. Diese konnte im Lauf des Septembers im kleinen Küstenort Aberdyfi gefunden werden, rund 40 Kilometer vom Hauptquartier des No. 10 (Inter-Allied) Commando in Harlech entfernt.
Unter den 60 Männern, die während der Wartezeit in Bradford vom MI5 überprüft wurden, befand sich der 1922 oder 1923 im steirischen Judenburg geborene Otto Posamentier, der später allerdings zu einer anderen Einheit versetzt wurde, ohne jemals einen Kommandoeinsatz absolviert zu haben – angeblich aufgrund einer Verletzung, wie in seiner Autobiografie zu lesen ist. Anhand seiner Geschichte lässt sich der Prozess der Überprüfung, das sogenannte „vetting“ anschaulich darstellen, denn der MI5 legte eine eigene Akte zu ihm an. Denn Posamentier hatte bereits im Juli 1942 die Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden erregt, weil er in einer Bar in London bei einer Verabredung mit einer britischen Frau mit seiner abenteuerlichen Vergangenheit angegeben hatte und dabei auch mit einem zufällig anwesenden Beamten des Ministry of Information ins Gespräch gekommen war. Dieser wollte nicht ausschließen, dass es sich bei dem jungen Soldaten des Pioneer Corps, der behauptete, auf Jamaica geboren worden zu sein und sich mit 16 Jahren den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg angeschlossen zu haben, möglicherweise um einen deutschen Spion handelte, und meldete die Begegnung daher an das Kriegsministerium. Die für die Sicherheit der Truppen zuständige Sektion des militärischen Nachrichtendienstes vermerkte die Angelegenheit als „Careless Talk“ und leitete sie an den MI5 weiter, der daraufhin alle verfügbaren Dokumente über den Exilösterreicher anforderte.
Nachdem Posamentier sich für den No. 3 Troop beworben hatte, wurde er im Rahmen des Auswahlverfahrens, in das auch Beamte des MI5 eingebunden waren, von diesen auf den Vorfall vom vergangenen Juli angesprochen. Posamentier bestritt nun, jemals den Internationalen Brigaden angehört zu haben, wodurch im Bericht zur Befragung vom 14. September folgende Einschätzung zu lesen ist: „I incline to think that there is no harm in this lad; he seemed a somewhat feeble specimen, and therefore has no doubt all the more reason to invent a romantic past to live up to the standard of some of his comrades in the Pioneer Corps.” Dennoch empfahl der Bericht, weitere Informationen über Posamentier einzuholen. Aus diesem Grund wurde auch der Germanist William Robson-Scott konsultiert, der für den MI5 Informationen über die deutsche und österreichische Exilgemeinschaft in Großbritannien sammelte. Nach exakt einem Monat berichtete Robson-Scott, er hätte zwar nichts zu Posamentier selbst herausfinden können, jedoch Leute ausfindig gemacht, die dessen Vater kannten und bestätigten, dieser sei ein wahrer Gegner der Nationalsozialisten. Aus diesem Grund spreche vom Standpunkt der Sicherheit nichts gegen den jungen Exilösterreicher und die Aufnahme in die Kommandotruppe.
Wann und ob es überhaupt dazu kam, ist ob der Quellenlage jedoch fraglich. Denn Posamentier scheint seinen Namen erst im Frühjahr 1943 in „Frank Parry“ geändert und eine neue Dienstnummer erhalten zu haben. Die Männer, die in Bradford auf ihre Versetzung zum No. 3 Troop warteten, nahmen, sofern der MI5 keine Sicherheitsbedenken äußerte, jedoch bereits am 23. Oktober 1942 ihre neuen Identitäten an. Dazu erfanden sie neue Namen und ein fiktives Vorleben als britische Staatsbürger – aufgrund ihres oftmals starken Akzents wurde ihnen geraten, sich als Waliser oder Schotten auszugeben, um im Falle einer Gefangennahme nicht enttarnt zu werden. Zum Schein wurden sie auch jeweils einem der vier zur Auswahl stehenden Regimenter (West Kent, East Kent, Sussex, Hampshire) zur Tarnung zugeteilt, um ihre Rekrutierung aus dem Pioneer Corps zu verschleiern – eine Prozedur, die auch vor der regulären Armee-Administration geheim gehalten wurde, um die größtmögliche Sicherheit für die Männer zu gewährleisten, was aber laut Hilton-Jones einen entsprechenden Aufwand und immer wieder auch Komplikationen mit sich brachte.
Drei Tage später konnten sie sich endlich auf den Weg in ihre neue Garnison in Aberdyfi machen, sodass das Personal des No. 3 Troop Ende Oktober 1942 zwei Offiziere sowie 56 Unteroffiziere und Mannschaftssoldaten betrug. Unter ihnen befanden sich – Posamentier nicht mitgezählt – jedenfalls mindestens sieben Exilösterreicher: Alfred Anderson (Alfred Arnstein), Evelyn Fraser (Hubert Frey), Robert Garvin (Konstantin Goldstern), Paul Streeten (Paul Hornig), Ernest Langley (Ernst Landau), Andrew Turner (Otto Pollaschek) sowie Richard Tennant (Richard Trojan). Dem gebürtigen Wiener Landau kam bald eine spezielle Rolle zu, denn er wurde zum Verwaltungsunteroffizier bestellt, später zum Offizier befördert und sollte in den letzten Wochen seines Bestehens sogar das Kommando über den Trupp übernehmen. Unterstützt wurde er dabei von Michael Kirby (Majer Kellmann), der im November 1942 extra angefordert wurde, um eine administrative Vakanz zu besetzen. Damit war die Zahl die Österreicher auf mindestens acht gestiegen, da der 1912 im galizischen Bohorodczany geborene Kirby nach dem Zerfall der Habsburger-Monarchie zwar zwischenzeitlich polnischer Staatsbürger gewesen war, aber immerhin ab 1923 für 15 Jahre in Wien gelebt hatte.
Mit der Übersiedlung nach Aberdyfi, wo die Soldaten in privaten Haushalten untergebracht wurden – was angesichts der hohen Geheimhaltung gewagt erscheint, da ihren Gastfamilien selbstredend völlig klar war, dass es sich bei ihnen keineswegs um gebürtige Engländer, Schotten oder Waliser handelte –, und dem Aufstellen einer eigenen, effektiven Verwaltung hatte Hilton-Jones das Fundament für seiner neue Einheit geschaffen und konnte mit der eigentlichen Arbeit beginnen. Zwar sollten in den nachfolgenden Monaten weitere Soldaten in kleinen Tranchen dem No. 3 Troop beitreten, dennoch war die Grundausbildung bereits seit Ende Oktober in vollem Gange. Im Mittelpunkt stand wie schon beim unglücklichen Dieppe-Team die körperliche Fitness samt Gewaltmärschen mit voller Ausrüstung und Hindernisläufen. Dazu kam ein buntes Programm an anderen „Gegenständen“: Aufklärung, Verhörtechniken, Entschlüsseln von chiffrierten Nachrichten, Tarnen, Umgang mit Sprengstoff, Infiltration, das Knacken von Schlössern, Waffenkunde über britische und auch deutsche Pistolen, Granaten, Gewehre und Maschinenpistolen, Nahkampf und Selbstverteidigung ohne Waffen sowie das Studium der Wehrmacht in all ihren Einzelheiten wie Aufbau und Hierarchie, Rangabzeichen und Fachausdrücke. So wollte Hilton-Jones die perfekten Krieger bzw. die bestausgebildete Einheit der gesamten Armee schaffen: “[T]he object was to produce a trained soldier, thoroughly conversant with his own and the enemy’s weapons and organisation, and capable of moving unseen and unheard by day or night with or without map or compass rapidly from any point to any other and then carry out […] reconnaissance or sabotage tasks”. Dass die meisten seiner Männer keine Erfahrung in derlei Dingen hatten und er ihnen daher von Grund auf alles beibringen musste, wurde Hilton-Jones zufolge von deren Intelligenz, Enthusiasmus und Disziplin wieder wettgemacht – diese Eigenschaften würden sie in den ihnen bevorstehenden Wochen und Monaten auch dringend benötigen.